Heiko ist Gründer der Münchener moresophy GmbH und Professor für Digitale Medien in München. Als Physiker mit dem Schwerpunkt Teilchenphysik beschäftigt er sich seit rund 25 Jahren mit neuronalen Netzen und statistischen Methoden zur Datenanalyse, lange bevor man diese Methoden unter Begriffen wie Big Data und KI subsumierte. Wir sprechen mit ihm heute über die folgenden Themen:
- Was ist Künstliche Intelligenz überhaupt?
- Wie viel müssen Führungskräfte von Künstlicher Intelligenz verstehen?
- Wo ist der operative Mehrwert für grundlegende kaufmännische Tätigkeiten?
- Inwiefern beeinflussen Datenschutzverordnungen den Einsatz von Künstlicher Intelligenz?
- Welche Ratschläge hat Heiko für Leser, die sich aktuell mit dem Thema KI beschäftigen?
Christian: Mittlerweile ist KI ein riesengroßes Hype-Thema und trotzdem für viele nach wie vor ein Buch mit sieben Siegeln. Was verstehst du unter KI und was muss ein CEO aus deiner Sicht heute über KI wissen?
Heiko: Er muss wissen, was das ist, und auch, was es nicht ist. Nur so kann er lernen und entscheiden, wo ein Einsatz für ihn Sinn ergibt und wo nicht. Vielen setzen KI mit Star Trek gleich, wo ein Roboter die Welt bevölkern und wie Menschen denken und handeln wird. Für 99 % der Unternehmen ist es reine Zeitverschwendung, über Ansätze nachzudenken, die in diese Richtung gehen. Was heute schon gut funktioniert ist das, was man gemeinhin als „schwache KI“ bezeichnet. Nimm zum Beispiel Alexa von Amazon. Für den Anwendungsfall Spracherkennung existiert hier eine akzeptable Lösung, die wiederum Ansatzpunkte für weitere Automatisierungsschritte legt, um z. B. eine Bestellung auszulösen, einen Termin einzutragen usw. Dieses Grundmuster der Automatisierung wird in den nächsten 15 bis 20 Jahren viele Prozesse transformieren. Ein CEO muss nicht im Detail wissen, wie man ein neuronales Netz programmiert. Er muss aber die Grundmuster verstehen und einige grundlegenden Fragen für sich klären: Was können Computer eigentlich leisten? Und was bedeutet das für mich und meinen Alltag als Entscheider, die Entwicklung meines Unternehmens, aber auch für meinen möglichen Karriereweg? Das Bewusstsein für diese Form der Automatisierung muss einen Stand erhalten, wie ihn die Automobilindustrie nach wie vor in Deutschland hat. Das ganze Land dreht sich praktisch um Autos, Verkehr und dessen Regulierung, weil diese Dinge einfach jeden betreffen. Beim Thema KI sollte es nicht anders sein, allerdings wird bislang noch nicht so gedacht und gehandelt. Darf man ohne Führerschein Auto fahren? Nein. Kannst du ohne ein Basisverständnis grundlegender und bald schon sehr normaler Dinge von KI profitieren? Nein.
Christian: Was genau kann eine schwache KI bereits heute leisten?
Heiko: Ganz allgemein: Überall da, wo Sprache, Audio, Text und Bilder eine hohe Bedeutung haben, kann KI unterstützen und schlichtweg schneller und präziser als dein Gehirn arbeiten. Am Ende geht es lediglich um Muster. Shazam ist ein schönes Beispiel hierfür. Musik ist aus physikalischer Sicht lediglich eine Kombination aus Sinustönen und verschiedenen Geräuschkomponenten. Shazam zeichnet diese Töne mit dem Handy auf und erstellt ein Spektogram, eine Art Fingerabdruck eines Liedes, der dann mit den Fingerabdrücken in der Datenbank abgeglichen wird. Noch weiter geht Tesla. Damit autonomes Fahren zugelassen wird, muss du natürlich sicherstellen, dass die Muster richtig erkannt werden, in diesem Fall die Menschen und Radfahrer. Hier existiert ein sehr präziser Anwendungsfall, wo KI einen Mehrwert stiftet und sehr viele Daten zusammengeführt werden, um diesen Use Case zu ermöglichen. Zu viele Unternehmen zäumen aktuell das Pferd aber von hinten auf, d. h. sie haben keinen konkreten Anwendungsfall und wollen dennoch KI-Projekte angehen. Meistens wird dann mit Kanonen auf Spatzen geschossen, da man viele dieser „Probleme“ mit einfacher Statistik hätte lösen können.
Christian: Wie kann mir das alles als Vertriebler im Tagesgeschäft nützen, um auf ganz klassische kaufmännische Aufgaben zurückzukommen?
Heiko: Menschen müssen immer wieder Entscheidungen treffen, wie sie sich in einer bestimmten Situation verhalten. Stell dir jemanden vor, der im Firmenkundengeschäft einer Großbank sitzt und die Aufgabe hat, Klienten zu betreuen. Leider ist es teilweise so, dass du hunderte von Mandanten hast und dann nur eine Viertelstunde Zeit, dich auf so ein Jahresgespräch vorzubereiten. Wie willst du in dieser kurzen Zeit wirklich verstehen, was dein Kunde tut und in welchem Umfeld, auf welchem Markt er sich bewegt? Mithilfe von KI kannst du den Kunden auf einer qualitativen Ebene verstehen und in einen konstruktiven Dialog treten.
Christian: Die quantitative Ebene kann ich mir gut vorstellen – das Risk Scoring. Wie kommst du in diesem Beispiel aber zur qualitativen Empfehlung?
Heiko: Ja, die quantitative Eben ist wirklich die einfachere. Auf der qualitativen Ebene geht es sehr stark um das Verstehen von Sprache, um das Analysieren von beliebigen unstrukturierten Informationen, die dann entsprechend zu qualifizieren sind. Wir suchen zum Beispiel in Daten nach spezifischen Triggern, die uns auf einen Blick etwa Auskunft darüber geben, wie und wo ein Unternehmen investiert – in welchen Bereichen, in welcher Höhe und welche Expansionspläne damit eventuell verbunden sind. Dafür musst du selbst keine Dokumente mehr lesen. Stattdessen bekommst du die wesentlichen Fakten visuell schnell aufgezeigt und kannst auch sofort benchmarken und Kunden mit anderen Vertretern derselben Branche vergleichen. In gewisser Hinsicht ist das eine Industrialisierung der Kopfarbeit.
Christian: Anhand welcher Kriterien kann ein CEO beurteilen, ob seine technische Infrastruktur für diesen Wandel überhaupt bereit ist?
Heiko: Das ist schon eine sehr komplexe Fragestellung, die an vielen Dingen scheitern kann. Der entscheidende Punkt, mit dem sich ein CEO auseinandersetzen muss, ist: Welche Strategie verfolge ich? Er muss das Thema sehr proaktiv angehen und bereit sein, sich darauf einzulassen und Dinge auszuprobieren. Die Hauptherausforderung, die sich daraus ergibt, ist gar nicht die Technik. Es ist vielmehr der Wandel, den du allen plausibel erklären musst. Oft begegnen wir Ängsten, die man den Menschen aber auch nehmen kann. Dazu muss man Systeme schaffen, die die Wahrscheinlichkeiten, mit denen eine KI arbeitet, begreifbar machen und transparent darstellen, was da passiert. Daran schließen sich jedoch Fragen an wie: Möchte ich immer Transparenz haben? Und wer ist dafür überhaupt zuständig? Diese grundlegenden Fragen sind wichtig. Wenn das geklärt ist, dann geht es eigentlich immer um Basisarbeit, die eigentlich gar nicht viel mit KI zu tun hat. Für dein Auto brauchst du eine Garage und regelmäßige Wartungstermine. Im übertragenen Sinne brauchst du das auch für deine Daten. Du musst sicherstellen, dass Daten in einer Form vorliegen, dass sie möglichst automatisiert auswertbar sind. Historisch bedingt haben viele Unternehmen hier noch Probleme, allerdings haben mittlerweile auch sehr viele Unternehmen eine sehr gute Analyse/KI-Infrastruktur. Ob die funktioniert, kannst du leicht überprüfen: Wie lange dauert es, bis du die wichtigsten KPIs und deren Veränderung ausgewertet auf den Monitor bekommst? Wenn das nicht per Knopfdruck passiert, dann musst du erst andere Dinge klären, bis du dich mit KI beschäftigen kannst.
Christan: Die Erklärbarkeit der KI ist grundsätzlich ein großes Problem. Was muss der Entscheider über Technik und Technologien wissen, um entscheidungsfähig zu sein?
Heiko: Also, von Technik muss er erst einmal nichts verstehen. Ich glaube, das braucht er nicht. Aber er hat den berechtigten Anspruch, dass ihm ein Experte oder ein Dienstleister aufzeigt, was so eine KI zu leisten imstande ist und mit welcher Verlässlichkeit sie arbeiten kann. Er muss also die Metriken verstehen, die man auch auf klassische Prozesse anwendet, im Sinne von Qualität, Ausbeute, Fehleranfälligkeit und so weiter. Wenn du deine Business-Anforderungen richtig verstehst und definieren und in Form von KPIs abbilden kannst, dann hast du schon sehr viel richtig gemacht und ein gutes Fundament gelegt. Kompliziert wird es immer dann, wenn dieses Fundament nicht gegeben ist und man trotzdem „schnell“ starten möchte.
Christian: Aktuell wollen alle Entscheider ihre Kundensprache personalisieren und automatisieren. Was macht für dich vor diesem Hintergrund eine gute Personalisierung aus?
Heiko: Ich würde die Frage umdrehen und stattdessen fragen: Was ist eine schlechte Personalisierung? Die kann man leichter beantworten. Für mich ist schlechte Personalisierung ein System, das mir relativ simpel immer mehr von dem bietet, was ich eh schon habe. Um im Bereich Personalisierung positive Erlebnisse bieten zu können, braucht es eine ganzheitliche Betrachtung – verschiedene Perspektiven, die man einbringt.
Christian: Wie vermeide ich eine schlechte Personalisierung?
Heiko: Das ist die entscheidende Frage! Der Standardansatz besteht im Grunde darin, die viel zitierte Customer Journey des Kunden in Erfahrung zu bringen und Daten zu sammeln, wo er sich bewegt, was er mag. Ich bin aber überzeugt davon, dass vieles, was im Zuge dieses Ansatzes versprochen wird, eine ziemliche Mär ist. Selbst wenn Daten nicht vollkommen fragmentiert vorliegen, bewegen sich viele Schritte, die man gehen müsste, um diese Customer Journey wirklich konsistent aufzubereiten, in Europa mittlerweile definitiv am Rande der Legalität – Stichwort Datenschutz.
Natürlich kann man aber auch ganz andere Wege gehen. Zum Beispiel indem man rein inhaltsbasiert arbeitet. In einem Projekt haben wir auf Basis Dutzender Zielgruppen-Personas ein großes semantisches Netz mit KI-Algorithmen angelernt. Diese Netze sind schlussendlich dazu imstande, Themen und Interessensgebiete aus Milliarden von Inhalten miteinander zu verquicken. Das ist ungefähr so, wie wenn du dich irgendwo mit Espresso beschäftigst und extrem viel Literatur kaufst, alle Bücher durchliest und nach und nach speicherst, in welchen Kontexten es um Espresso geht. Dann denkst du irgendwann nicht mehr nur an Kaffee, sondern auch an Italien oder an Rom und den Barista oder ein gutes Abendessen. Diese Prozesse kann eine Maschine erlernen und dieses Wissen auch auf Menschen anwenden. Dazu muss sie gar nicht wissen, ob der User jetzt Heinz Müller oder Eva Glücklich heißt und welche Seite er oder sie vorher eventuell besucht hat.
Christian: Also braucht man dafür gar keinen Anwender. Wenn im Shop eine Suchanfrage eingegeben wird, greift die Maschine auf dieses Netz zurück, um anders vorzuschlagen, korrekt?
Christian: Wenn ich nicht – wie Facebook oder Google – ein großes Ökosystem habe, durch das ich Daten, gegebenenfalls auch über mehrere Geräte hinweg, relativ gut tracken kann, wird der Aufbau eines solchen Datennetzes sehr schnell zum Problem. Zusätzlich schießt so etwas wie die DSGVO in den Markt, die noch einmal alles schwieriger macht. Inwiefern beeinflusst das die Werbung oder die ganze E-Commerce-Branche im Allgemeinen?
Heiko: Das beeinflusst die Branche immens! Und das wird auch noch eine ganze Weile so bleiben. Die DSGVO hat zur Folge, dass viele digitale Werbebemühungen, die massiv auf das Profilieren von Usern ausgelegt sind, grundsätzlich infragestehen und vor allem nicht mehr so funktionieren, wie Werbung bislang funktioniert hat. Allein schon, weil heute 40 bis 50 Prozent aller Cookie-Informationen gar nicht mehr da sind.
Christian: Was bedeutet das für mich als Unternehmen? Wie blickst du unter Bezug auf die DSGVO und ähnliche Regularien auf Personalisierung, Attribution und die Ermittlung der Wirkung meiner Werbekanäle?
Heiko: Natürlich gibt es verschiedene Handlungsoptionen. Ich kann selbstverständlich überlegen, wie ich die Zustimmung der User gewinnen und Nutzerdaten unter Umständen auch legal erheben, speichern und verarbeiten kann. Ich denke, User sind dazu immer bereit, wenn sie einen für sich erkennbaren Mehrwert und Gegenwert erhalten. Deshalb haben die meisten Leute auch kein Problem mit Amazon, weil dort Personalisierung wunderbar funktioniert und sie den Komfort und den Service schätzen. Doch wenn ich sehe, welches Monstrum sich die Industrie im Bereich der Werbung aufgebaut hat, wie komplex und intransparent dieses ganze Ökosystem ist, dann spricht für mich vieles dafür zu sagen: Es gibt auch bessere und einfachere Lösungen, die berechenbarer und transparenter sind.
Christian: Was ist deine abschließende Empfehlung für die Leute, die sich stärker mit KI beschäftigen wollen?
Heiko: Das ist einfach: Definiere klar das Problem und den Anwendungsfall, den du lösen möchtest. Hinterfrage dann, wie du dieses Problem am besten lösen kannst. In vielen Fällen kann KI helfen, in vielen Fällen muss sie das aber gar nicht. Unabhängig von der KI kann ich nur jedem empfehlen, sich ganz grundsätzlich mit dem Thema Daten und Datenanalytik zu beschäftigen, da sich im Prinzip jeder klassische Prozess datenbasiert automatisieren lässt. Du musst dich mit diesen Themen beschäftigen. Fast jeder in Deutschland hat einen Führerschein und darf ein Auto fahren. Fast jeder in Deutschland kann mit Begriffen wie einer Zündkerze, Kühlwasser oder Getriebeschaden etwas anfangen. Im Gegensatz dazu kann dir fast niemand erklären, was eine Datenklassifikation eigentlich genau ist. Beginn mit den Grundlagen und versteh die Grundlagen gut. Die Details können dann Experten übernehmen.
Christian: Ein schöner Abschluss für das Interview. Dankeschön.