Kundenzentrierung ist vielfach nur noch ein Buzzword. Wenn man in Deutschland kurz vor Ladenschluss ein Geschäft betritt, wird man nicht selten mit einem „wir schließen jetzt aber gleich“ oder „die Kasse ist schon zu“ begrüßt. In diesem Interview sprechen wir mit Ron Hofer, Gründer und Gesellschafter von USEEDS, über das Thema Kundenzentrierung. Ron hat in seiner Laufbahn mehr als 1.000 Usability und Produktinnovationsprojekte begleitet und in unserem Interview haben wir darüber gesprochen, inwieweit das Thema Kundenzentrierung in vielen Unternehmen oft nur noch als undefinierte Floskel verwendet wird, warum es in Deutschland nur wenige  Bespiele gibt, wo alle Bereiche des Unternehmens kundenzentriert aufeinander abgestimmt arbeiten und wie man das Thema am besten angeht.

Kundenzentrierung wird oft mit Absatzförderung verwechselt

Christian/Rene: Schenkt man den PR-Abteilungen von Unternehmen Glauben, dann arbeiten alle Unternehmen kundenzentriert. Inwieweit deckt sich das mit Deiner Erfahrung?

Ron: Viele Unternehmen stellen Kundenzentrierung mit Absatzförderung gleich. Das Produkt muss vom Käufer akzeptiert werden, sonst klappt es mit dem Umsatz nicht. Und wenn der Kunde es kauft, dann muss man ja irgendwie kundenzentriert arbeiten, so die Annahme oder Hoffnung. In diesen Fällen kann man streng genommen nur von einer heiß gekochten Suppe sprechen. Kundenzentrierung kann aber natürlich auch bedeuten, dass du tatsächlich in langfristige Beziehungen investierst und dann dein gesamtes Geschäft umbaust, bzw. neu denkst. Das wäre für mich die spannende Ecke, in der das Thema Kundenzentrierung voll greift und in der digitalen Welt kommen wir genau in diese Ecke. Nehmen wir nur einmal das Thema Owning vs. Sharing, dass in immer mehr Brachen an Bedeutung gewinnt. Spotify hat zwar Millionen von Anwendern, aber sie sind noch nicht Free-Cash-Flow positiv. Sie werden nur langfristig Gewinne erwirtschaften, wenn die Kunden den Dienst langfristig nutzen. Wenn es dir in so einer Situation nicht gelingt langfristige Kundenbeziehungen aufzubauen, dann funktioniert das gesamte Modell nicht. Aber auch wenn Du als einfacher Händler unterwegs bist: Die Kundenakquisitionskosten sind in vielen Branchen bereits so hoch, dass ein Kunde erst über seinen Lebenszyklus hinweg positive Deckungsbeiträge erwirtschaftet. Beim Erstkauf machen immer weniger Unternehmen bereits Gewinne.

Christian/Rene: Woran liegt es, dass immer noch so viele Unternehmen rein absatzorientiert denken und wie kann man das Problem lösen?

Ron: Du musst die Brille wechseln, bzw. Du musst Dich trauen langfristig zu denken. Für Aktiengesellschaften mit Quartalsberichten ist das jedoch kaum möglich, es ist zumindest aus meiner Erfahrung heraus schwierig. Diese Hürde muss von ganz oben in der Hierarchie angegangen werden, sonst funktioniert es nicht. Dazu ein Beispiel das ggf. überraschend ist: Die Techniker Krankenkassen hat sich vor zwanzig, dreißig Jahren vor die Unis gestellt, Studenten beraten und als Kunden gewonnen. Kurzfristig hat diese Kundengruppe nicht zur Ergebnisoptimierung beigetragen. Aber langfristig wurde damit eine Klientel aufgebaut, das jede Krankenkasse haben möchte: Akademiker, die viel Geld verdienen, Geld einzahlen und wenig krank sind. Aber das hat zwanzig Jahre gedauert. So eine Denkweise findet man nur selten vor.  

Organisationsstrukturen als Knackpunkt

Christian/Rene: Fairer Weise muss man auch sagen, dass viele Unternehmen nicht über die erforderlichen Ressourcen verfügen, um so lange planen zu können. Was ist aus Deiner Sicht das Kernproblem, dass im ersten Schritt und kurzfristig anzugehen ist?

Ron: Ich denke, dass Kernproblem hängt mit der Organisation zusammen. Alle Unternehmen sind heute mehr oder weniger „schön strukturiert“, bzw. viele Unternehmen strukturieren sich ja ständig um. Der Kunde steht dabei aber nur selten im Zentrum. Natürlich betonen alle Unternehmen, dass sie ihre Organisationsstruktur flacher gestalten und irgendwie auch kundenzentrierter arbeiten wollen. Allerdings arbeiten die meisten nach wie vor in funktionalen Silos, die im schlimmsten Falle gar nichts mit dem Kunden zu tun haben. In so einer Situation erlebt der Kunde nicht das Gesamtunternehmen, sondern immer nur Teile davon. Vergleich es mit einem Orchester: Wenn nur ein Instrument falschspielt, fällt das dem Hörer sofort auf. Ähnlich wie der Dirigent die Musiker koordiniert, muss die Chefetage seine Abteilungen auf den Kunden ausrichten.

Christian/Rene: Das hört sich nach einer Riesenaufgabe an. Kannst Du diese Überlegungen präzisieren?

Ron: Zunächst muss der Schalter im Kopf umgestellt werden. In den meisten Unternehmen werden Produkte und Services in der Regel immer noch als Haupt-Assets definiert. Autohersteller denken an erster Stelle an Autos, erst dann kommt der Kunde. Gleichzeitig sind die funktionalen Organisationstrukturen ein Hindernis. Ich habe ehrlich gesagt nur wenige Unternehmen kennengelernt, die im Spotify-Modus arbeiten, also in Tribes & Squats organisiert sind. Das Interessante an diesem Ansatz ist ja darin zu sehen, funktionale Silos aufzubrechen, um sich mit kleineren, interdisziplinären End2End Teams auf die Customer Journeys zu konzentrieren. Welche Kernbedürfnisse adressieren wir überhaupt als Unternehmen? Diese Frage muss aus meiner Sicht am Anfang der Organisationsentscheidung stehen, um sich dann entsprechend umzustrukturieren. Selbst wenn Unternehmen schon in diese Richtung arbeiten stelle ich immer wieder fest, dass sich dann auch die interdisziplinären Teams wieder auf Produkte stürzen. Auch agile Ansätze haben keine eingebaute Kundenzentrierung. Die agile Arbeitsweise schafft aber die grundsätzlichen Voraussetzungen, um sich stärker kundenzentriert auszurichten.   

Wie man das Thema Kundenzentrierung angehen sollte

Christian/Rene: Ein Großteil der Unternehmen in Deutschland sind Mittelständler, die noch am Anfang der Digitalisierung stehen und meilenweit von einer Arbeitsweise à la Spotify & Co. entfernt sind. Wie sollen diese Unternehmen das Thema Kundenzentrierung und Digitalisierung aus deiner Sicht einfach und pragmatisch angehen?

Ron: Ich würde aus zwei Ecken kommen. Das eine ist HR-relevant, suche Dir Gleichgesinnte. Letztendlich sind da immer noch Menschen in Unternehmen. Sie können entscheiden, wie sich das Unternehmen entwickeln soll. Wenn Du als Einzelkämpfer agierst, dann wirst Du nicht weit kommen und durchsuchst früher oder später frustriert nach einem neuen Job. Identifizier die Menschen im Unternehmen, die ebenfalls einen neuen Mindset anstreben. Im Idealfall sollte der CEO die Person sein, die hier nach Gleichgesinnten sucht, um stärker kundenzentriert zu arbeiten.

Der zweite Ansatzpunkt ist schlichtweg darin zu sehen, den Kunden besser zu verstehen. Die meisten Unternehmen, die ich kennenlerne, haben kein vertieftes Kundenverständnis geschweige denn interessante Daten. Klar haben die Adressdaten und Zahlungsinformationen. Aber was wissen wir wirklich über den Kunden? Was könnte er wollen? Wie geht es ihm eigentlich? Hat er schon ein anderes Produkt von uns? Und welchen Wert hat er eigentlich? Viele reden über den Customer Lifetime Value, aber die wenigsten Unternehmen können diesen Wert auf Einzelkundenebene berechnen oder im Fall eines Neukunden prognostizieren. Dabei ist es ja so wichtig, nicht mit dem Rasenmäher über alle Kunden hinweg zu gehen. Welche Kunden sind extrem treu und aktiv? Und warum sind sie das? Welche Kunden passen ggf. auch nicht uns? Wie kann ich aufgrund dieser Muster neue Leads besser onboarden? Evt. hast Du 1 Millionen Kunden in Deiner Datenbank. Aber welche 5.000 dieser Kunden sind die wirklich aktiven Heavy User und Promoter? Welche Dinge müssen wir angehen, dass diese Kunden eine super coole Experience haben? Mit dem Rasenmäherprinzip wird man diese Fragen nicht beantworten können. Du musst selbst mit den Kunden sprechen, ständig. Sonst verlierst Du dich in internen Umstrukturierungen, etc.

Technische Altlasten und Rahmenbedingungen

Christian/Ron: Die häufig geringe Basis an Kundeninformationen hängt in der Regel mit den Legacy Systemen zusammen. Was ist Deine Sicht auf die technischen Rahmenbedingungen, um kundenzentriert zu arbeiten?

Ron: Evt. hört es sich ein wenig frustriert an, aber die meisten Customer Relationship Ansätze sind aus meiner Sicht eine reine Datenverwaltung. Es wird mehr Verwaltung als Gestaltung betrieben. Es gibt zahlreiche Unternehmen mit wahnsinnig vielen Daten, aber es gibt keine Verknüpfungen zwischen den Datensilos. Das ist der erste Blocker und er ist technischer Natur. Der zweite Blocker ist in der Datenverwertung zu sehen. Die Daten sollen im Idealfall dazu beitragen, Entscheidungen besser und schneller im Interesse der Kunden zu treffen und operativ umzusetzen. Dafür brauchst Du natürlich jemanden, der aus der Kundensicht diese Daten analysiert und zu richtigen Schlussfolgerungen kommt und (!) den Blick auf das gesamte Unternehmen hat. Natürlich kannst Du McKinsey anrufen, aber die schauen sich die P&L, Effizienzmetriken und Benchmarks der funktionalen Bereiche an. Du brauchst jemanden, der sich das ganze Unternehmen aus Kundensicht ansieht. Das passiert sehr selten.  

Es gibt keinen Blueprint für eine kundenzentrierte Arbeitsweise

Christian/Rene: Du hast gerade beiläufig die Consulter angesprochen, die jetzt auch alle Design Thinking und Personas im Angebot haben. Wie siehst diese Entwicklung und wie gehst du mit diesen Schlagwörtern um?

Ron: Grundsätzlich sind aus meiner Sicht Beratungsansätze problematisch, wenn sie auf allgemeinen Blueprints basieren. Genau davon lebt jedoch das klassische Geschäftsmodell von Unternehmensberatungen. Im Extremfall wird dann ein Power-Point-Folienset lediglich an Deinen Styleguide angepasst, um es bewusst überspitzt zu formulieren. Ob das für deinen Bedarf genau das richtige ist, das ist häufig eine andere Frage. Wenn du auf einen Berater zurückgreifen möchtest, wofür es viele gute Gründe gibt, dann musst du darauf achten, dass er sich wirklich darauf einlässt, was die Herausforderungen in deinem Markt sind und was das aus einer kundenzentrierten Sicht für dein Unternehmen bedeutet. Das ist eine Einzelbehandlung. Alles andere kannst du ehrlich gesagt vergessen.

Kommen wir zum anderen Punkt Eurer Frage. Das Wort Persona benutze ich z. B. so gut wie gar nicht mehr. Oft kann man nur gähnen, wenn man wieder eine Persona sieht, die mit Alter, Geschlecht, Interessen, etc. beschrieben werden aber in dieser Form gar nicht in der Datenbank identifizierbar geschweige dann ansprechbar sind. Personas kommen ja aus einer Zeit, in der Produkte primär aus der Technologie- und Businesssicht entwickelt wurden. Alan Cooper kam dann salopp formuliert daher und meinte: „Hey, hängen Sie doch mal ein Bild von einem typischen Nutzer an die Wand. Dann denkst du auch daran, für wen du das eigentlich machst was du gerade machst.“ Und das hat eingeschlagen wie ein Torpedo. Je nachdem wo eine Organisation aktuell steht kann so ein Ansatz auch immer noch hilfreich sein. Es gibt immer noch genügend Mittelständler, die kein mentales Bild von ihren Kunden haben und daher ein visualisiertes Bild an der Wand benötigen. Personas sind in so einer Situation schlichtweg ein Werkzeug, um Empathie aufzubauen. Isoliert betrachtet ist ihr Mehrwert jedoch gering, wenn man die Personas nicht mit echten Kunden in der Kundendatenbank identifizieren kann.

Christian/Rene: Ist es beim Design Thinking ähnlich?

Ron: Design Thinking ist eine Methode, wie man an Problemlösungen herangeht. Nur weil du Design Thinking betreibst, heißt das noch lange nicht, dass du Kundenzentriertheit förderst. Es ist eine Methode, um Kreativität zu fördern und Risiko zu reduzieren, indem Du sehr früh Dinge ausprobierst und hinterfragst ob sie funktionieren. Wenn ich mit Design Thinking nun an ein Problem herangehe, wo die wichtigste Messgröße die Kundenakzeptanz ist, dann müssen die Kunde natürlich sehr stark eingebunden werden. Es kann natürlich auch andere Probleme geben, die man mit dieser Methode angehen kann, beispielsweise um die interne Kostenstruktur zu verbessern und hier kommt der Kunde mitunter gar nicht vor. Insofern führt Design Thinking nicht direkt zu einer kundenzentrierten Arbeitsweise. Es ist aber ein gutes Instrument, um Lösungen mit geringem Aufwand zu finden.

Christian/Rene: Gibt es ein Unternehmen, dass aus Deiner Sicht extrem kundenzentriert arbeitet? Was macht dieses Unternehmen richtig?

Ron: Das ist eine schwierige Frage. Ehrlich gesagt fallen mir spontan keine Unternehmen ein. Das hängt damit zusammen, da Kunden teilweise ganz unterschiedliche Erfahrungen mit einem Unternehmen sammeln, je nachdem mit welchen Touchpoint sie interagieren. Ich kenne eine Bank, da ist der Kundenservice wirklich top. Du hast keine Wartezeiten am Telefon. Die Berater sind kompetent, freundlich und wenn ich an einen anderen Berater weitervermittelt werden, weiß der bereits was mein Problem ist. Die gleiche Bank hat natürlich auch eine Webseite, die sich im Hinblick auf die Experience jedoch massiv vom telefonischen Kundenservice unterscheidet. Insofern ist diese Bank nicht wirklich kundenzentriert. Diese Gesamtheit, von vorne bis hinten, wie fühlt sich das kundenzentriert an? Da muss ich nochmal nachdenken, ob mir da ein gutes Beispiel einfällt (lacht).

Werde zum Magnet!

Christian/Rene: Aber die ebenso gute wie erschreckende Nachricht, die man bei Dir zwischen den Zeilen heraushört: Kundenzentrierung ist nicht zwangsläufig Rocket Science. Wenn man die Basics richtig angeht, sprich den Telefonhörer schnell abnimmt und freundlich ist, hat man offenbar schon viel richtig und besser gemacht als viele andere, oder?  

Ron: Grundsätzlich stimmt das, aber es handelt sich meistens immer nur um einen Kanal. Den gilt es mit den anderen Touchpoints zusammenzubringen. Dann wirst Du zum Magnet. Ansonsten arbeitet man streng genommen nur mit To-Do-Listen: Der Hörer wird schnell abgenommen, Haken dahinter und nächstes Thema. Das ist nicht kundenzentriert, aber letztendlich auch ein legitimer Weg, um punktuelle Verbesserungen zu erzielen.

Christian/Rene: Wie sieht denn ein idealer Magnet für Dich aus?

Ron: Stell Dir einfach die Frage, wie Du selbst behandelt werden möchtest. Wenn Du in ein Geschäft gehst und freundlich mit Deinem Namen begrüßt wirst und der Verkäufer nicht zu aufdringlich ist, das wäre ja schon mal guter Anfang. Das auf digitale Touchpoints zu übertragen, das ist sicherlich eine der Kernherausforderungen der nächsten Jahre, um besser zum Magneten zu werden. Die Zeiten sind vorbei, in denen ich mit der digitalen Schrotflinte in den Himmel schieße und irgendwas runterfällt.  

Christian/Rene: Vielen Dank für das Interview und die Zeit.

1 Comment

  1. Eine sehr gute Erklärung zum Thema Kundenfokussierung! Es ist ein langer Weg, aber der einzig Richtige wenn man langfristig erfolgreich wachsen möchte.

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