Derzeit versuchen sich fast alle Unternehmen als Digitalunternehmen zu positionieren. Gleichzeitig hat sich in den letzten Jahren gezeigt, dass ein moderner Tech Stack ein Wettbewerbsvorteil sein kann, wenn es um die Gewinnung und Bindung talentierter Mitarbeiter geht. Wenn in einigen Jahren die meisten Unternehmen aus technischer Sicht mehr oder weniger gut aufgestellt sind, was macht dann ein Unternehmen als Arbeitgeber attraktiv? Dies führt uns zum Thema Employer Branding und dem dahinterstehenden Führungsgedanken. Was oftmals für „Chi Chi“ gehalten wird, entpuppt sich bei näherer Betrachtung als immer wichtiger – GERADE in Zeiten der Digitalisierung. Wir sprechen heute mit Gero Hesse von Territory, dem wohl bekanntesten Experten zum Thema Employer Branding in Deutschland und diskutieren über die folgenden Punkte:

Christian: Eine ganz provokante Frage gleich zu Beginn – auf Eurer Kundenlisten finden sich fast ausschließlich Großunternehmen: Ist Employer Branding nur etwas für die Großen oder können das auch kleine Unternehmen betreiben?

Gero: Wenn man es auf den Kern herunterbricht, ist das Employer Branding eigentlich die Frage nach dem Warum. Was man macht, kann man immer schnell erklären, und wie man es macht auch noch ganz gut. Aber bei dem Warum wird es schon schwieriger. Und diese Frage kann man sich als Großkonzern genauso stellen wie als Kleinstunternehmen mit fünf Angestellten. Wir kümmern uns aus rein monetären Gesichtspunkten um die Großen. Kleinstunternehmen würde ich aber eh eher empfehlen, Bücher zu lesen und mit gesundem Menschenverstand an die eigene Markenbildung heranzugehen, statt sich für teuer Geld eine Riesenberatung einzukaufen.

Christian: Wie sieht eine gute Employer Branding im Jahr 2020 aus deiner Sicht aus? Was rätst du Unternehmen?

Gero: Im Digitalgeschäft wird gegenwärtig überall die Bedeutung der Customer Experience diskutiert. Der dahinterstehende Grundgedanke muss auch die Personalarbeit übertragen werden, da deine Mitarbeiter am Ende des Tages den Unterschied zur Konkurrenz ausmachen. Employer Branding ist daher auch mehr als die Stellenausschreibung und mal ein anderes Bild dazu – es geht um eine Haltung, einen ganzheitlichen Prozess vom Image bis hin zu dem konkreten Gefühl, das der Bewerber hat, wenn er sich auf eine Stelle bewirbt, die Candidate Experience. Employer Branding findet zuerst intern statt und wirkt dann nach außen hin. Da spielt die Führungskultur eine große Rolle, und auch die Art und Weise wie man miteinander umgeht und letztendlich wie gearbeitet wird. Dieses streng hierarchische Denken aus der Vergangenheit mit einem allwissenden Chef und Mitarbeitern, die ihre Aufgaben stupide abarbeiten, entspricht einfach nicht mehr der Gegenwart.

Christian: Wie erklärst du dir vor diesem Hintergrund ein Unternehmen wie Rocket Internet, zum Beispiel? Die waren vor fünf Jahren noch die erste Wahl bei Bewerbern. Auch wenn bekannt war, dass die Arbeitsbedingungen bei Rocket hart waren und der Chef häufig mal laut werden kann, wollten Absolventen gar nicht mehr zu McKinsey oder Goldman Sachs. Rocket Internet hatte eine unglaubliche Sogwirkung entfaltet. Wie erklärst du dir das?

Gero: So eine Sogwirkung entsteht, wenn man zum richtigen Zeitpunkt mit dem richtigen Thema am richtigen Ort unterwegs ist. Das war damals bei Rocket so. Sie haben große Ziele ausgerufen und massiv investiert – alles auf Digitalgeschäfte und damit auf die Zukunft fokussiert. Das ist erst einmal ein glaubhaftest Signal. Da wird nicht erzählt, da wird etwas gemacht. Und die Art und Weise wie sie es gemacht haben war modern, ich denke da vor allem an das ganze Thema Performance Marketing, wo Rocket ja lange Zeit eine Art Hoheitswissen hatte. Das alleine schon hat den Unterschied zu vielen anderen Unternehmen ausgemacht, die erst einmal lange Zeit Power-Point-Folien gemalt haben. Allerdings war die Führungskultur unter aller Sau. Das funktioniert eine gewisse Zeit, aber nie langfristig. Deshalb plädiere ich auch immer für Nachhaltigkeit. Und nachhaltig ist so ein System wie Rocket mit Sicherheit nicht, sie haben sich über die letzten Jahre ja auch angepasst und verändert.

Außerdem beobachten wir gerade eine Art gesamtgesellschaftlichen Wandel. Leute schauen mittlerweile mehr auf den Sinn – klar, die Bezahlung ist wichtig, aber eigentlich will man auch etwas tun, wo man ideell dahintersteht und mit Fug und Recht sagen kann, dass man stolz auf seine Arbeit ist. Man wird zwar auch immer Leute finden, die in solchen Konstrukten wie Rocket noch mitziehen, aber sind das dann die, die wirklich einen Unterschied machen? Das wird der Markt zeigen.

Christian: Im Prinzip stellst Du mit deinem Verständnis von Employer Branding auf die grundlegende Führungsarbeit/-kultur in Unternehmen ab. Weniger Eichenschreibtisch, gerne etwas mehr Mitbestimmung der Mitarbeiter und Agilität – um es bewusst überspitzt auszudrücken. Alles, was mit der Veränderung menschlichen Verhaltens zusammenhängt, dauert gemeinhin aber sehr lange. Haben die meisten Unternehmen überhaupt noch genug Zeit, so eine umfassende Kulturveränderung anzugehen?

Gero: Natürlich muss man diese Veränderung in einem Zeitraum bewerkstelligen, der sich nicht irgendwann auf die eigene Wettbewerbsfähigkeit auswirkt. Deshalb muss man diesen Prozess auch als oberste Priorität anerkennen und Gas geben. Aber vor allem muss eine solche Veränderung oben anfangen. Die Führungsetage muss wissen, wovon sie redet, wenn sie sich um ein besseres Employer Branding und eine Aufarbeitung der eigenen Unternehmenskultur bemüht. Alles andere wäre zum Scheitern verurteilt. Und die Führung muss den Plan kommunizieren UND entsprechend handeln. Vielleicht sogar in dem Bewusstsein, dass sie zwar weiß, dass sich etwas ändern muss, aber vielleicht auch nicht so recht, wie, und sie sich deshalb Hilfe holt. Die Mitarbeiter müssen immer wissen, was warum passiert. In dieser Form passiert das leider nur selten und dann versanden solche Initiativen. Etwas zu wollen und etwas zu machen ist ein himmelsweiter Unterschied. Wenn ich es nur will aber nicht entsprechend handele, dann wird es nie zu einer Änderung kommen. So einfach ist die Welt.

Christian: Angenommen, ich bin ein E-Commerce-Shop, mache 100 Millionen Umsatz und biete schon irgendwie eine coole Kultur, in der viele junge Leute arbeiten wollen. Wie geht ihr in einem solchen Unternehmen vor? Was passiert als Erstes, was als Nächstes?

Gero: Wir sprechen zuerst mit dem Top-Management, bevor wir uns Zeit für qualitative Gespräche mit den verschiedensten Mitarbeitern aus der gesamten Hierarchie nehmen. Dabei treten die Mitarbeiter gewissermaßen als Markenbotschafter in Erscheinung und erzählen ihre Geschichten. Anhand dessen versuchen wir, den zentralen Unterschied zu anderen Unternehmen herauszuarbeiten. Dabei geht es am Ende um das Versprechen, das der Arbeitgeber seinen Leuten gibt. Diese Versprechen einzelner Unternehmen mögen auf den ersten Blick oft austauschbar wirken, aber wenn man das eine oder andere aufschlüsselt, erkennt man eine Art Haus. Der Claim, der aus der Positionierung des Arbeitgebers und aus all den Mitarbeitergesprächen als gemeinsamer Nenner hervorgeht, ist das Dach.

Christian: Dieses Haus ist also ein Narrativ, eine sinnstiftende Erzählung. Wie kommt ein Unternehmen, vielleicht auch unabhängig von seiner Größe, seinem Narrativ auf die Spur?

Gero: Das ist super einfach! Vor allem Start-Ups fällt es oft leicht, zu erklären, warum sie etwas tun und was sie damit erreichen wollen. Aber auch ein mittelständisches Unternehmen hat Möglichkeiten. Vielleicht produziert man etwas und sucht Ingenieure für ein bestimmtes Fachgebiet. Also setzt man einen Fachblog auf, auf dem die Mitarbeiter ihre Erfahrungen schildern und die Atmosphäre beschreiben. Dafür gibt es praktisch in jeder Stadt Beispiele. Dort haben Menschen Lust auf das, was sie tun, und bringen vielleicht auch einen gewissen Stolz mit.
Mit ein bisschen gesundem Menschenverstand, Kreativität und Nachdenken kann man diesbezüglich viel mehr bewegen, als die meisten so denken – auch wenn man digital noch nicht so versiert ist. Die meisten Glaser, Tischler oder Altenheimbetreiber denken aber eben oft nur darüber nach, wie man ein Altenheim betreibt oder eine Scheibe vernünftig einsetzt. Ein Gegenbeispiel ist etwa die Glaserei Sterz aus Niedersachsen. Deren Chef, den Meister, habe ich vor einiger Zeit einmal kennengelernt. Der hat durch ein Facebook-Video Bekanntheit erlangt, in dem er nach neuen Mitarbeitern sucht. Darin spricht er natürlich über die Formalitäten, sagt aber eben auch klipp und klar: „Ich tue alles für dich, erwarte aber auch ganz viel von dir – Zögern oder Kneifen kommt nicht infrage“. Man merkt genau, was für ein Typ der ist. Er wirkt hart, aber fair. Der ist authentisch. Und sagt alles, was gesagt werden muss, in eineinhalb Minuten.

Christian: Wie beurteilst du, ob ein Unternehmen fit für so einen Wandel ist?

Gero: Das Employer Branding ist ja nur eine Facette einer solchen Veränderung. Deshalb muss zumindest schon einmal das Verständnis dafür da sein, dass dieser Prozess nicht nur auf einer Ebene stattfindet. Wir sind nicht die Agentur, die direkt erst eine ganze Kultur entwickelt. Wenn wir das Gefühl bekommen, dass wir eine Kampagne erarbeiten sollen, die daraufhin als einziges Mittel für den Wandel herhalten soll, gehen wir direkt auf die Zuständigen zu und sagen ihnen, dass das so nicht funktionieren wird. Du kannst nicht auf Dauer nach vorne erzielen, was nach hinten nicht stimmt.

Christian: Welches ist aus deiner Sicht ein wirklich cooles Beispiel für gutes Employer Branding und warum?

Gero: Da fällt mir zuerst eine Antwort ein, die dich vielleicht erst einmal erstaunen wird: Aldi-Süd. Was die so machen, finde ich, ist aller Ehren wert. Die haben schon vor drei, vier Jahren ganz klar erkannt, dass sie ein erhebliches Problem bekommen werden, wenn sie so weitermachen wie zuvor. Ihre ganze Kultur war absolut strikt, sehr autokratisch und unpersönlich. Und sie haben verstanden, dass so ein Prozess – so eine Kulturveränderung – zwar viel Zeit in Anspruch nehmen mag, am Ende aber eben über das Fortbestehen des Unternehmens entscheidet.
Mittlerweile geht Aldi-Süd Wege, die früher undenkbar gewesen wären. Zum Beispiel baute die ganze Kampagne darauf auf, dass die Mitarbeiter einerseits zeigen, wer sie als Menschen sind, und andererseits, warum sie für das Unternehmen arbeiten und welche Verknüpfungen bestehen. Und als sie einen Personalvorstand gesucht haben, wurde nicht, wie früher, einfach ein Headhunter engagiert. Stattdessen haben sie mit uns eine Video-Stellenausschreibung gemacht, in der das ganze Team erklärt: „Das sind wir und das erwarten wir von dir als neuem Chef“.

Christian: Also lautet die Devise „Sei authentisch und sprich darüber!“. Richtig? Statt sich einfach mal schnell einen Kapuzenpulli anzuziehen…

Gero: Genau. Sei so, wie du bist. Oder – wenn du eine Kapuzenpulli-Kultur etablieren willst – dann arbeite ernsthaft daran. Schicke nicht einfach nur dein Top-Management ins Sillicon Valley, damit die alle mit Pulli und Bart wiederkommen und das dann auf das gesamte Unternehmen wirken soll, sondern lass auch den Azubi Pulli und Bart tragen. Geh nicht nur nach vorn, sondern auch in die Tiefe, an die Grundsubstanz. Nur so kommst du an Leute, die auch wirklich zu dir als Unternehmen passen. Dazu gehört auch, Ecken und Kanten zu zeigen, wie der Meister der Glaserei Sterz. Sicher gibt es auch Leute, die seine Direktheit eher abschreckt.
Authentizität lohnt sich aber auch aus Kostengründen. Das klingt vielleicht merkwürdig, ist aber eigentlich ein ziemlicher No-Brainer: Wenn wir Vorstände fragen, was sie denn erreichen wollen, lautet die Antwort oft: mehr Bewerbungen erhalten. Wir sagen dann meistens, dass sie durch unsere Arbeit vielleicht sogar weniger Bewerbungen erhalten werden. Und dann sind viele erst einmal baff. Dabei geht es doch eigentlich gar nicht darum, möglichst viele Bewerbungen zu erhalten, sondern die passenden! Im Idealfall sogar nur die eine, die alle Anforderungen erfüllt. Warum? Weil man dann natürlich auch niedrigere Prozesskosten hat.

Christian: Danke für deine Antworten!

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