Digitalisierung als Herausforderung

Die Automobilbranche in Deutschland steht Ende 2019 an einem Scheideweg. Über Jahre hinweg galt die Branche als Garant für den wirtschaftlichen Erfolg von Deutschland, allerdings stellt die Digitalisierung sie vor neue Herausforderungen. Neue Mobilitätskonzepte, der Trend zu alternativen Antrieben und ein sich änderndes Konsumentenverhalten (share vs. own) stellen die Hersteller und Zulieferindustrie vor scheinbar unlösbare Aufgaben.  Die FAZ konstatiert der Branche weiterhin gewisse Selbstzerstörungstendenz: 

„Die Selbstzerstörung hat ihren Kern im Diesel-Betrug von Volkswagen, damit aber nur noch wenig zu tun. Längst ist die Dynamik eine eigene. Organisationen wie die Deutsche Umwelthilfe, aber auch Politiker und mache Medien befördern den Niedergang mit Fleiß. Die Hersteller erweisen sich derweil als unfähig, dem Überzeugendes entgegenzusetzen. Sie wissen selbst nicht wohin“.

(FAZ, 10. September 2019, S. 1)

Die hier skizzierten Herausforderungen sind nicht spezifisch für die Automobilindustrie, sie stehen exemplarisch für die Herausforderungen, die der digitale Wandel mit sich bringt. In faktisch allen Wirtschaftszweigen stehen Entscheider vor analogen Problemen und für viele ist der Zug sprichwörtlich schon abgefahren. Doch wie schlimm ist es um verschiedene Branchen bestellt? Eine seriöse Antwort hierauf lässt sich nur im Einzelfall geben. Allerdings zeichnet sich ein Muster ab, dass eine Branche immer dann am Tipping Point steht, wenn eine Plattform einen bestimmten Marktanteil erobern konnte. 

Fallbeispiel: Netflix vs. Blockbuster

Dies lässt sich deutlich am Niedergang des Videovermarkters Blockbuster in den USA nachvollziehen, der in Spitzenzeiten knapp über 9.000 Videotheken betrieb mit einem Umsatz von über USD 5 Milliarden im Jahr 2008. Die zunehmende Popularität von Online Vermarktern setzte dem Unternehmen jedoch massiv zu: Immer wenn Netflix einen Marktanteil in einer bestimmten Region von etwa 30% überschritt, musste die lokal ansässige Videothek schließen (vgl. Harvard Business Manager 7/2019): Für Blockbuster Kunden wurde es immer schwieriger, überhaupt noch eine Filiale zu erreichen während Netflix den Kundenzugang über neue Interfaces sicher stellte. 

Vergleicht man die Struktur von Videotheken (kostspielige Filialen, Lizenzgebühren, etc.) mit dem Einzelhandel, drängen sich zwangsläufig Analogien auf. Auch hier gilt es – an deutlich teureren Standorten im Vergleich zu einer Videothek – eine physische Präsenz zu finanzieren; ohne höheren Eigenmarkenanteil ist dies bereits heute kaum noch leistbar. Ruft man sich weiterhin die Situation von Buchhändlern oder der einschlägig bekannten Elektromärkte vor Augen, dann liegt der Tipping Point dieser Branchen sogar deutlich niedriger als im Fall von Blockbuster. So beträgt der geschätzte Marktanteil von Amazon Deutschland im Buchhandel bereits 20%, im Bereich Elektronik & Computer liegt er bei etwa 16% (vgl. Abb. 1). Kann eine Plattform solche Marktanteile gewinnen, erscheint es aus meiner Sicht unmöglich, ein bestehendes und traditionelles Geschäft noch langfristig und wirtschaftlich in gewohnter Weise zu betreiben. Kostenstrategien im Sinne eines „last man standing“ sind hier die bittere Pille, die es zu schlucken gilt. Wenn bis zu diesem Zeitpunkt noch keine umfangreichen digitalen Vorarbeiten geleistet wurden (Kundendaten aufarbeiten, Marketing Technology Stack etablieren, etc.), ist es in der Regel schon aufgrund der angespannten Kostensituation kaum noch möglich digital anzugreifen. 

Infografik: So mächtig ist Amazon in Deutschland | Statista
Quelle: Statista 2018

Der Amazon Indikator als Pulsmesser

Wenn man vor diesem Hintergrund den „Amazon Indikator“ als Maßstab ansetzt, dann bleibt den meisten Branchen nur noch wenig Zeit, sich entsprechend vorzubereiten. Wenn Amazon bereits Marktanteile im einstelligen Prozentbereich am Branchenumsatz hat, muss man davon ausgehen, dass diese Wirtschaftszweige in absehbarer Zeit kippen. Der „Amazon Indikator“ dient hier natürlich nur als Metapher für die zunehmende Dominanz von Plattformen im Allgemeinen. In den Niederlanden mischt beispielsweise Picnic den Lebensmitteleinzelhandel auf (vgl. eTailment 2018) und hat in zahlreichen Regionen höhere einstellige Marktanteile – Zahlen, die bis vor kurzem in dieser Branche als unmöglich galten. In Großstädten wie Amsterdam ist Uber innerhalb kürzester Zeit zum größten Taxiunternehmen avanciert, mit einer unglaublichen Marktdurchdringung. Die Dominosteine sind in jeder Branchen bereits angestoßen. Die Frage ist nur, wie schnell der letzte Stein kippen wird. Der „Amazon Indikator“ stellt hier grobe Richtwerte zur Verfügung, wie schlimm es um eine Branche bereits heute bestellt ist und wie viel Zeit zum handeln einem noch bleibt.

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