Bevor sich Olaf vor acht Jahren selbstständig gemacht hat, arbeitete er u. a. für Amazon, OTTO und SportScheck. Nun berät er Unternehmen zu den Themen Online, E-Commerce, digitales Marketing und digitalen Vertrieb. Über die letzten Jahre stand dabei immer wieder (wenig verwunderlich) das Thema Marktplatz auf der Agenda. Wir sprechen heute mit Olaf zu diesem Thema und gehen im Kern der Frage nach, ob und für wen Marktplätze im Jahr 2020 überhaupt noch von Relevanz sind. Die Themen im Überblick: 

Christian/Rene: Wenn man heute mit dem Verkaufen über einem Marktplatz an den Start geht, kommt man dann nicht fünf Jahre zu spät?

Olaf: Das ist eine gute Frage! Ich glaube, man muss diesbezüglich sehr klar differenzieren. Einerseits muss berücksichtigt werden, ob es sich um einen B2C- oder einen B2B-Marktplatz handelt und ob mit physischen Gütern oder Dienstleistungen gehandelt wird. Außerdem muss die Rolle beleuchtet werden: Ist man Hersteller mit eigener Marke, ein Multi-Marken-Händler, verfügt man über Eigenmarken oder vertreibt man Produkte mit exklusiven Vertriebsrechten? Andererseits muss man die Branche an sich verstehen, um beobachten zu können, in welcher Ecommerce-Reifephase sie sich befindet. Erst dann kann man beurteilen, ob man vielleicht wirklich zu spät dran ist. Man muss auch unterscheiden, ob es sich um Neu- oder Gebrauchtware handelt. Aus meiner Sicht gibt es für gebrauchte oder aufbereitete / refurbished Produkte in diversen Sortimenten noch Potenziale, die es für Neuprodukte in den entsprechenden Sortimenten nicht mehr gibt.

Erfolgsaussichten für Händler sind aus meiner Sicht extrem gering, die nur neue Produkte von Dritten verkaufen und weder eine eigene Marke noch eigene oder exklusive Produkte führen. Chancen bieten sich bei Nischensortimente aus dem Longtail. Generell haben Marken und Hersteller einen klaren Vorteil und drängen massiv in den Bereich B2C. Aber auch für die gilt, wer in Bereichen wie Textil/Fashion oder Consumer Electronics jetzt erst Amazon als Absatzkanal neu erschließt, der hat schlichtweg die letzten Jahre verschlafen.

Christian/Rene: Ist Amazon für dich in Deutschland immer noch das Maß aller Dinge oder gibt es andere, vielleicht insbesondere asiatische Player, die eine gewisse Relevanz erlangt haben?

Olaf: Als Markenhersteller kommt man an Amazon nicht vorbei. Deshalb braucht man, ob man will oder nicht, eine Strategie für Amazon – als Vendor, als Seller oder mit Mischformen, den sogenannten hybriden Modellen. Zudem muss man die Rolle von Amazon in der Customer Journey verstehen, seinen Markenauftritt dort managen und gegebenenfalls auch darüber nachdenken, wie man seine Vertriebspartner „enabled“/befähigt, dort zu verkaufen.  Aber: Als Markenhersteller braucht man auch eine Strategie über Amazon hinaus. Warum? Weil eine gewisse Abhängigkeit definitiv immer gegeben ist, egal, welches Modell man wählt.

Vielleicht muss man sich – um es mal extrem auszudrücken – sogar unter Kosten-Nutzen-Gesichtspunkten die Frage stellen, ob man überhaupt noch einen eigenen Webshop braucht.  Das ist am Ende eine betriebswirtschaftliche Betrachtung: Über welchen Kanal kannst Du schneller und günstiger eine relevante Reichweite aufbauen und Kunden binden? Und wo hat man seine eigenen Kompetenzen? Nike und Adidas zum Beispiel verkaufen Ihre Produkte vermehrt durch eigene Shops – online wie auch offline. Dafür braucht man aber eine sehr starke Marke und man muss die anderen Vertriebskanäle entsprechend managen. Für nicht so starke Marne eröffnet sich diese Option allerdings kaum.

Neben Amazon muss man in seinen strategischen Überlegungen aber auch noch diverse andere Marktplätze berücksichtigen. Die aktuellen Entwicklungen bei Facebook und Instagram beobachte ich mit großem Interesse.

Natürlich bearbeiten chinesische Anbieter wie Alibaba derzeit den europäischen Markt intensiv, um die Marken zu bewegen, Ihre Produkte auf Ihren Plattformen in China zu verkaufen. Deshalb muss man sich diese Anbieter aber auch den chinesischen Markt mit deren besonderen Erfolgsregeln sehr genau anschauen. Man muss bewusst die Entscheidung fällen, inwieweit man diese Märkte bespielt oder nicht.

Christian/Rene: Derzeit sagen alle, sie müssten sich als Tech Company definieren. Infolgedessen wird ein Großteil der Unternehmen, die derzeit noch investieren können, in fünf Jahren einen relativ modernen Tech-Stack haben. Dabei geraten die Marken an sich eher in den Hintergrund. Wenn nachher aber alle Tech „können“ oder zumindest einkaufen können, wird dann das Thema Marketing und Storytelling nicht wieder wichtiger sein als die Tech-Zentrierung?

Olaf: Die Tech-Zentrierung wird ein Muss sein und bleiben. Die aktuelle Kapitalausstattung ist für den Aufbau dieser Tech-Zentrierung von wesentlicher Bedeutung. Um noch einmal das Beispiel von eben zu bemühen: Adidas und Nike haben vermutlich mehr Geld und mehr Möglichkeiten, sich ein zukunftsfähiges Tech-Stack aufzubauen, als kleinere Marken. Dabei ist die Tech-Kompetenz für mich ein Teil der Digitalkompetenz, und die ist sowieso überlebensnotwendig.

Im Hinblick auf die Marken selbst entscheiden in Zukunft dann Markenkern, Purpose und die eigene Reichweite. Die Firma Henkel, die mit ihren Produkten stark im stationären Handel vertreten ist, kaufte dieses Jahr erst die Influencer-Marken Banana Beauty und Hello Body. Dadurch werden neue Zielgruppen auf neuen Kanälen erreicht und die Erkenntnisse können dann auch auf andere Marken übertragen werden. Das bringt uns jedoch wieder zu der Frage, welche Produkte auf diesem Wege verkauft werden sollen. Sind Lebensmittel oder Drogerieprodukte digital überhaupt profitabel verkaufbar oder müssen andere Produkte oder andere Verpackungsgrößen produziert werden, um überhaupt mitspielen zu können?

Christian/Rene: Sprechen wir dann im Prinzip nicht eher über betriebswirtschaftliche Grundlagen, und weniger über IT? Wie über die Frage: Über welchen Kanal verkaufe ich zu welchem Preis?

Olaf: Ich würde die Frage sogar noch anders formulieren: Was ist mein Geschäftsmodell? Will ich ins Endkonsumentengeschäft einsteigen, ja oder nein? Und wenn ja, in welchem Umfang? Welche Teile der Wertschöpfungskette will ich selbst „inhouse“ managen und welche lagere ich aus? Ich fange also an, über das Sortiment, internationale Preisgestaltung, Rabatte und Distributionspolitik nachzudenken – und das sind fundamentale vertriebs- und marketingpolitische Entscheidungen. Da überlegt dann nicht jede Abteilung für sich, sondern das gesamte Unternehmen beginnt sich zu transformieren. Und diese Entwicklung ist, wie bereits angedeutet, je nach Branche bereits mehr oder weniger vorangeschritten.

Christian/Rene: Du als Berater – wie bereitest du ein Unternehmen am besten auf diese organisatorischen Änderungen vor?

Olaf: Wenn ich das so sagen darf: Ich bin hochgradig sensibilisiert auf die Beantwortung der Frage „Sagen sie nur, dass sie es wollen, oder wollen sie es tatsächlich?“. Deshalb führe ich im Zuge der Projektanbahnung diverse Gespräche. In denen entwickle ich ein Gespür dafür, wie weit man sich bereits mit diesen Gedanken auseinandergesetzt hat. Wir beleuchten den Wettbewerb und die Phase, in der die Branche steckt. Vor allem wenn die Branche noch ganz am Anfang steht, wie es mit Drogerieprodukten oder Möbeln der Fall ist, ist der Druck bislang nicht so hoch, diese Entwicklung vorantreiben zu müssen.

Christian/Rene: Welche Fehler machen Unternehmen dabei am häufigsten?

Olaf: Sie unterschätzen das Investment sowohl personell, zeitlich als auch budgetär als auch den damit verbundenen Aufwand. Viele beginnen – und ich auch – mit sogenannten „Leuchtturmprojekten“. Im Zuge solcher Projekte macht man erst einmal etwas fernab das Alltagsgeschäfts und integriert das Ergebnis dann wieder in die Organisation. Das ist manchmal schmerzhaft, aber aus meiner Sicht immer noch besser, als direkt alle mitnehmen zu wollen. So könnte man keine Geschwindigkeit aufbauen.

Christian/Rene: Das heißt, wenn man glaubt, das Thema Marktplatz kurz einmal auszuprobieren und damit direkt das eigene Umsatzproblem lösen zu können, irrt man sich, korrekt?

Olaf: Oder man hat sehr viel Glück. Will man darauf nicht setzen, muss man sich all die wichtigen Fragen stellen, nach dem Geschäftsmodell, dem Betriebsmodell, der internen Organisation. Wo hört klassischerweise der Verantwortungsbereich eines Vertriebs auf und wo fängt der Verantwortungsbereich eines E-Commerce-Teams an? Und wie organisiert man das eigentlich?

Ich habe schon die unterschiedlichsten Modelle gesehen. Zum Beispiel, wie sich ein klassischer Vertrieb, der sonst nur stationäre Key Accounts hat, dem Thema E-Commerce nähert. Da muss man unterscheiden: Wie geht man mit Multi Channel Key Accounts um? Und was sind Pure Player? Der Key Accounter für einen reinen Online-Player ist kein klassischer Verkäufer mehr. Ich glaube, das Verständnis für die Unterschiede ist das, was es relativ schnell aufzubauen und zu lösen gilt.

Christian/Rene: Lass uns einmal von der betriebswirtschaftlichen Seite auf die technische Seite wechseln: Welche Voraussetzungen muss ich als Unternehmen schaffen, um einen Marktplatz richtig und effizient mit Produkten füttern zu können?

Olaf: Es ist viel, viel Basisarbeit notwendig. Ich schmunzele, weil es so platt klingt, wenn ich sage: Um Produkte verkaufen zu können, braucht man Produktdaten mit vernünftigen Bildern, Beschreibungen, Logistikdaten etc. Das mag trivial klingen, aber in der Praxis erweist sich das immer wieder als riesige Herausforderung. Meistens werden die Daten dezentral in einem ungeeigneten Format hinterlegt, so dass sie nicht endkonsumentenwirksam genutzt werden können. Dabei sind die Produktdaten das A und O, wie auch die technische Anbindung in die eigne Systemlandschaft. Häufig muss auch erst einmal die notwendige technologische Basis angepasst oder neu aufgebaut werden. Ich persönlich tendiere aus Gründen der Schnelligkeit eher dazu, eine Middleware für die Anbindung an Marktplätze zu nutzen, um schneller skalieren zu können.   

Christian/Rene: Ist es überhaupt realistisch, dass ein Großteil der Unternehmen in Deutschland in den nächsten zwei bis drei Jahren Mitarbeiter akquirieren und halten kann, die diese Themen umsetzen können? Gibt es davon überhaupt genug? Ich sehe zum Beispiel bei uns, dass wir teilweise zu viele Junior- und zu wenig Seniorleute haben. Um Reichweiten aufzubauen, braucht man aber das interdisziplinäre Wissen aus der Marketingwelt, und man muss verstehen, wie man skaliert. Das erfordert technologisches Verständnis ebenso wie ein Verstehen des Prozesses.  

Olaf: Das generelle Know-how ist jedenfalls in Form von Podcasts, Vorträgen, Büchern und Blogs frei verfügbar. Der Mangel besteht eher im Verständnis der handelnden Personen bezüglich der Zusammenhänge der vielen Details und deren Wechselwirkungen im Prozess. Hat man einmal Mitarbeiter, die über dieses Verständnis verfügen, müssen vor allem Mittelständler darauf achten, diese zu halten. Würden diese Experten das Unternehmen verlassen, hinterlassen sie bei mittelständischen Unternehmen mit fünf bis fünfzehn Mitarbeitern in einer Abteilung natürlich viel größere Lücken als in den großen Tech-Unternehmen. Deshalb muss man als Arbeitgeber für die Experten generell attraktiv und visibel sein, um eine Chance zu haben. Punkt.

Christian/Rene: Punkt. Das ist ein schöner Abschluss fürs Interview. Danke, Olaf!

 

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