Schenkt man den einschlägigen PR-Abteilungen von Konzernen und Stellenanzeigen Glauben, dann arbeitet die gesamte Wirtschaft bereits agil. Die Realität zeigt leider häufig ein ernüchterndes Bild. Wir sprechen heute mit Andreas Rein, der als Organisationsberater und Trainer die letzten zehn Jahre diverse Startups aber auch Großkonzerne beim Thema Agilität unterstützt hat. Was bedeutet es überhaupt agil zu arbeiten? Warum ist Scrum Segen und Fluch zugleich? Wie wird man agil, wenn man bei diesem Thema noch am Anfang der Reise steht? Um diese und weitere Fragen geht es im folgenden Interview.

Wie Agilität und Lean zusammenhängen

Christian/Rene: Die Begriffe Agilität und Lean werden häufig undifferenziert verwendet. Was bedeutet der Begriff „Lean“ für dich?

Andreas: Lean ist für mich die Basis von allem und hier geht es um Strukturen. Unnötige Prozessschritte werde abgeschafft und die Organisation wird auf Effizienz getrimmt, wobei der Fokus stets auf dem Kunden liegt. Es ist erstaunlich, wie viele Unternehmen sich Kundenprozesse nicht end2end anschauen und wie viel Ballast sie mitschleppen. Eine Lean-Organisation muss natürlich wissen, welchen Bedarf sein Kunde hat und seine Strukturen am Kundenwunsch ausrichten. Dazu muss ich auch wissen und definieren, was mein „Why“ als Unternehmen ist, d. h. warum existiere ich überhaupt am Markt? Zum Verständnis hilft hier der „Golden Circle“ von Simon Sinek und sein Buch:“Frag immer erst: WARUM“.

Christian/Rene: Wie kommt nun das Thema Agilität ins Spiel?

Andreas: Agilität setzt auf dem Lean-Gedanken auf und ist aus meiner Sicht die Fähigkeit eines Unternehmens dynamisch zu kommunizieren und Pläne zu adaptieren. Das heißt, anstatt sich an vorgegebene Pläne eisern zu halten, ist die Organisation intelligent genug, Veränderungen wahrzunehmen und sich dynamisch anzupassen. Das ist für mich echte Business Agilität. Das bedeutet natürlich, dass eine solche Organisationseinheit auch ein Stück intelligent sein muss. Anders formuliert: Ein top-down aufgestelltes Organisationsmonster hat es in der Regel schwer flexibel zu reagieren. Die einzelnen Organisationseinheiten haben oft über Jahre hinweg überhaupt nicht selbständig agiert und vielmehr nach Vorgaben von oben gearbeitet. Mitunter geht das sogar soweit, dass sie angstgetrieben sind gar nicht entscheiden wollen.

Christian/Rene: Kann man Agilität noch weiter präzisieren? Wie bekommt man es hin dynamisch zu handeln und welche Rolle spielen Vorgehensmodelle wie Scrum oder Kanban?

Andreas: Grundsätzlich: Ich brauche ein tiefes Verständnis dafür, was mein Kunde haben möchte und ich muss sämtliche meiner Aktivitäten darauf ausrichten. Typischerweise wird der Kunde in agilen Vorgehensmodellen durch eine bestimmte Rolle vertreten, bei Scrum ist das der Product Owner. Er muss aber wirklich die Entscheidungsbefugnis und Kompetenz haben, den Kunden auch tatsächlich vertreten zu können – notfalls auch gegen ein nicht quantifizierbares und spontanes Bauchgefühl der Geschäftsführung. Er ist der Anwalt des Kunden und derjenige, der Produkte durch den Entwicklungs- und Produktlebenszyklus des Unternehmens treibt. Product Ownership wird in manchen Teilen der Literatur daher auch mit einem Unternehmer im Unternehmen verglichen. Natürlich sind die organisatorischen Voraussetzungen zu schaffen, dass er tatsächlich so agieren kann. Daher spreche ich auch lieber von Teams, die eine end2end Verantwortung für ein bestimmtes Produktinkrement übernehmen. Diese Teams müssen interdisziplinär besetzt sein, um tatsächlich wie ein Unternehmen im Unternehmen agieren zu können. Ein viel zitiertes Beispiel ist sicherlich Spotify, wo zahlreiche agile Teams basierend auf der Unternehmensstrategie ihre Aktivitäten auf den Kunden ausrichten. Der Ansatz – die so genannten Tribes & Squats – ist aber sehr fortgeschritten.

Bewusstsein für Agilität im Unternehmen etablieren

Christian/Rene: Ich denke, dass neunzig Prozent der Unternehmen in Deutschland nach wie vor funktional organisiert sind. Es gibt die IT-Abteilung, die Marketingabteilung, etc. Wie kommen solche Unternehmen zu einer neuen Struktur, wo man sich stark auf den Kundenprozess ausrichtet?

Andreas: Im Grunde genommen bewegt man sich in Richtung einer drastischen Matrixstruktur. Das ist wichtig zu wissen, da viele Unternehmen in so einer Struktur aus diversen Gründen nicht arbeiten können oder wollen. Hierüber muss man sich bewusst sein. Der erste Schritt ist allerdings, überhaupt erst ein einmal das Bewusstsein zu schaffen, dass die Organisation existiert, um ein Kundenproblem zu lösen. Weiterhin muss man verstehen, dass Abteilungen keinen Selbstzweck erfüllen, sondern mit anderen Bereichen interagieren müssen. An diesen Schnittstellen knirscht und menschelt es häufig. Aber wenn ich lösungsorientiert im Interesse des Kunden arbeiten möchte, dann brauche ich andere Kommunikationsstrukturen, als man sie aus den funktionalen Silos kennt. Dies führt automatisch zu dem Thema, dass ich andere Führungsstrukturen benötige. Ich glaube, der erste Schritt Richtung Agilität besteht darin, dieses Bewusstsein überhaupt in den Köpfen der handelnden Akteure zu schaffen. Wenn man politischen Konzernspielchen austragen muss und diese nicht im Keim ersticken kann, dann wird es tendenziell schwer – um es diplomatisch auszudrücken.

SCRUM wird oft missverstanden und halbherzig implementiert

Christian/Rene: Wenn Du dich an Deine letzten zehn Projekte erinnerst, was sind typische Ausgangssituation, die Du vor Ort antriffst?

Andreas: Grundsätzlich ist es natürlich wichtig zu verstehen, dass ich in der Regel nur beauftragt werden, wenn etwas noch nicht perfekt funktioniert. Insofern ist es schwer zu sagen was wirklich typisch ist. Allerdings habe ich in letzter Zeit sehr häufig gehört und gesehen, dass Unternehmen Scrum eingeführt haben und es nicht rund läuft. In vielen Fällen kommen dann Aussagen wie „Scrum ist doof“ oder „hilf uns eine andere Methode zu finden“. In den meisten Fällen stellt sich dann heraus, dass Scrum zwar eingeführt, von vorne herein aber Änderungen vorgenommen wurden. Diese Abstriche und Veränderungen betreffen dann häufig Kernelemente des agilen Arbeitens ohne die Agilität einfach nicht möglich ist. Dazu einige Bespiele: Der Product Owner hat häufig keinen Freiraum, wirklich im Kundeninteresse Prioritäten setzten zu können. Oft sind bestimmte Teammitglieder auch in mehreren Scrum Teams eingebunden, womit sie im Extremfall mehr Zeit in Meetings als mit der Lösung von Kundenproblemen verbringen. In vielen Fällen wird auch die Sprintautonomie des Teams nicht respektiert, d. h. in einem laufenden Sprint kommt eine außenstehende Person und sagt „Ich habe hier noch etwas. Das muss du noch machen“. Dies führt logischer Weise dazu, dass die Teams nicht an den Produktinkrementen arbeiten können, die eigentlich geplant wurden. Solche Arbeitsunterbrechungen wirken sich negativ auf die Produktivität im Allgemeinen aus, da damit ein Einarbeitungsaufwand für neue oder geänderte Aufgaben einhergeht. Das ist insbesondere Managern ohne technischen Hintergrund oft nur schwer vermittelbar. Es bedarf einer rigorosen und konsequenten Einführung, sonst funktioniert es einfach nicht. In vielen Fällen ist man sich genau über solche Punkte im Vorfeld nicht im Klaren, womit wir wieder beim Thema Mindset sind.

Ansatzpunkte zur Agilisierung des Unternehemns

Christian/Rene: Als wir vor zehn Jahren Scrum eingeführt haben, sind wir mit einem Projekt im IT-Bereich gestartet, dass nicht unmittelbar mit dem operativen Geschäft zusammenhing. Anschließend wurde der Ansatz auf andere Bereiche ausgeweitet. Ist das heute immer noch ein probater Weg oder würdest Du heute einen anderen Weg wählen?

Andreas: IT-Organisationen oder IT-Abteilungen neigen in der Regel zu so einer gewissen Gamification. Sie haben einfach Lust daran neue Dinge auszuprobieren. Von daher ist es relativ leicht, in solchen Bereichen zu starten. Früher oder später stellen die meisten Unternehmen jedoch fest, dass sie mit wasserfallartigen Arbeitsweisen digitale Geschäftsmodelle nicht erfolgreich umsetzen können. Die Business Seite springt meistens jedoch erst auf den Zug, wenn die Umsätze nicht mehr stimmen oder auf relevante Marktänderungen nicht hinreichend schnell reagiert werden kann.

Christian/Rene: Inwieweit reicht es aus, wenn man sich nur auf die Agilisierung des IT-Bereichs fokussiert?

Andreas: Ein Unternehmen kann man sich als eine Wertschöpfungskette vorstellen, an deren Anfang und Ende der Kunde steht. Zwischen diesen Punkten gibt es diverse Abteilungen, die im Idealfall Hand in Hand arbeiten und ein Produkt oder eine Dienstleistung erstellen, für die der Kunde auch bereit ist zu bezahlen.  Wenn ich in der Mitte eines solchen Workflows ein Zahnrädchen optimiere und Scrum in der IT-Abteilung einführe, ist das zwar schöne für die IT-Abteilung. Ob dadurch aber der Gesamtprozess besser wird, das ist eine ganz andere Frage. Eine lokale Verbesserung führt nicht dazu, dass das Gesamtsystem besser wird. Wenn ich agil werden will, muss ich anfangen systemisch zu denken.  Du hast in einem Wertschöpfungsprozess immer einen Flaschenhals. Wenn ich nur ein Zahnrad optimiere, dann verschiede ich den Flaschenhals im schlimmsten Fall nur und der Durchsatz des Gesamtprozesses wird nicht schneller. Dazu ein Beispiel: In vielen Unternehmen ist die IT ein Flaschenhals, was häufig mit monolithischen Altsystemen zusammenhängt. Selbst wenn dieser Flaschenhals von heute auf morgen verschwindet, arbeitet das Unternehmen nicht zwingend schneller. Habe ich z. B. Marketingmitarbeiter, die mit einem modernen Tech Stack arbeiten können? Wenn das Marketing nicht mehr auf die Hilfe der IT bei Basisthemen angewiesen ist, dann ist das sicherlich ein Fortschritt. Wenn das Marketing aber nicht über hinreichend viele Ressourcen im Bereich Text und Grafik verfügt, kann es auch nicht ohne weiteres mehr Kampagnen als vorher umsetzen. Der Flaschenhals hat sich verschoben. Es ergibt Sinn im Vorfeld über solche Zusammenhänge nachzudenken und nicht blind in ein Projekt nach dem nächsten zu laufen.

Lean und Agile in Großkonzernen: Funktioniert das?

Christian/Rene:  Inwieweit können Großkonzerne vor diesem Hintergrund überhaupt agilisiert werden?

Andreas: Theoretisch können sie das natürlich schon. Man darf allerdings nicht vergessen, dass solche Unternehmen bereits eigenständige Kulturen und gewachsenen Strukturen haben. In so einer Situation ist der kulturelle Wandel nur sehr, sehr langsam möglich und er funktioniert aus meiner Sicht nur top-down. Es wird nicht funktionieren, dass ich in einer Abteilung Blumen pflanze und ein Finanzquartal später das ganze Unternehmen erblüht. So funktioniert das nicht. Ich habe bei einem großen Finanzinstitut agile Methoden eingeführt, da war der Treiber der Vorstand. In Konzernen müssen solche Leute vorleben, was gewünscht ist und was nicht. Denn häufig machen viele Mitarbeiter nur das, was sie auch sehen. Erst dann ist es glaubhaft und das aus einem einfachen Grund: Bei einem seit Jahrzehnten erfolgreich am Markt agierender Konzern kann man nicht ohne weiteres die Routinen ändern, die zum Erfolg geführt haben. Hier muss der Vorstand vorangehen und es vorleben.

Christian/Rene: Vor 10-15 Jahren haben sich viele Unternehmen im Zuge der Anglisierung auf Scrum gestürzt. Was ist seitdem passiert?

Andreas: Scrum ist Fluch und Segen zugleich. Es ist eine Methode, die sehr gut funktioniert und einen schönen Namen hat. Gleichzeitig gibt es mit Jeff Sutherland und Ken Schwaber zwei ikonische Gestalten, die Scrum publik machen, Trainings geben und mit den dahinterstehenden Organisationen viel Geld verdienen. Dabei wird häufig übersehen, dass Scrum eine Projektmanagementmethode ist, die sich im Kern auf lediglich ein Team bezieht. Scrum ist in so einer Grundform nur bedingt skalierungsfähig. Vor diesem Hintergrund sind viele Skalierungsframeworks entstanden, wie SaFE, das Scaled Agile Framework, LeSS oder Nexus. Sehr bekannt ist auch das Spotify Model. Viele dieser Ansätze halte ich aber für eine große Illusion. Wenn ich noch nicht agil arbeite, dann erfordert es in der Regel bereits ein Transformationsprojekt, um überhaupt die Strukturen zu schaffen, dass ein Product Owner ansatzweise richtig agieren kann. Das ist schon schwer. Wenn ich mir nun solche großen Frameworks ansehe, dann kann man das sicherlich mit einer SAP Einführung vergleichen, d. h. es wird komplex, teuer und ich muss massive Änderungen anstoßen. Ich denke, dass das in dieser Bandbreite ein Nischenthema ist. In vielen IT Projekten macht ein Green-Field-Ansatz Sinn, wenn die Last der Altsysteme zu schwer wiegt. Ich kenne keine Beispiele, wo ein etablierter Konzern in voller Konsequenz auf einen solchen Ansatz umgestellt hat.

Bedeutung agiler Strukturen für die Mitarbeitergewinnung

Christian/Rene: Wie sollten eingeschwungene Unternehmen das Thema dann angehen?

Andreas: Es gibt gute leichtgewichtige Ansätze. Ich denke da z. B. an das Flightlevel-Modell von Klaus Leopold. Hierbei geht es um die Frage, auf welcher Ebene des Unternehmens eine Optimierung erfolgen soll. Dabei kann es sich erstens um die operative Ebene handeln wo die Teams im Vordergrund stehen. Die zweite Frage stellt auf die Koordination zwischen den Teams an. Auf der dritten Ebene geht es um das Portfoliomanagement. Es ist dabei weniger wichtig mit welchen Methoden du auf welcher Ebene arbeitest. Wichtiger ist die Kommunikation zwischen den Ebenen. Das ist eine gute Möglichkeit, die Ansatzpunkte zur Optimierung selektiv anzugehen, ohne im ersten Schritt die großen Transformationsräder drehen zu müssen. Der Ansatz ist aus der Arbeit mit der Kanban Methode entstanden, die ebenfalls einfach und intuitiv ist. Und weil es einfach ist funktioniert es auch.

Christian/Rene: Wo geht das Thema Agilität in den nächsten Jahren hin?

Andreas: Wir haben eine Generation Y, die ins Arbeitsleben eintritt. Diese Generation ist von anderen Werten getrieben als unsere Generation. Auf der einen Seite haben sie ein großes Interesse daran Expertise aufzubauen und sich auch persönlich einzubringen. Auf der anderen Seite sind sie bestimmt nicht mehr so loyal wie meine Generation. Job Hopping wird viel normaler sein, als es das heute schon ist. Wenn ich als Unternehmen keine flexiblen Strukturen bieten kann, um so eine Arbeitsweise zu unterstützen, dann habe ich ein Problem und ich werde wahrscheinlich als Arbeitgeber an Attraktivität verlieren. Es hat ja einen Grund, warum junge Absolventen lieber in einem Startup arbeiten als in einer Bank. AboutYou ist einfach cooler als die Volksbank, wo zwei Menschen im grauen Anzug den Lehrlingen gegenübersitzen. Da hat keiner mehr Lust zu und ich kann das verstehen. Es ist ja heute schon so, dass traditionalistisch aufgestellte Unternehmen Probleme haben Mitarbeiter zu gewinnen. Wenn ich folglich nicht dazu in der Lage bin, eine leichtgewichtige, selbstverantwortliche und von Expertise getriebene Arbeitsweise zu ermöglichen, dann spielt man am Arbeitsmarkt keine führende Rolle mehr. Das ist für mich der Kerntrend.

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