Verena Fink hat nach einer umfassenden Management-Karriere u.a. bei QVC und Otto  das europaweit agierende Digital-Strategie-beratungsunternehmen Woodpecker Finch gegründet und ist zudem als Autorin bzw. Moderatorin international etabliert. Verena bezeichnet sich selbst als „Geburtshelferin und Sterbebegleiterin in der Digitalisierung“, was sie damit genau meint, hat sie uns im heutigen Gespräch bzgl. einfacher Einstiegs-Optionen für den Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI) wissen lassen:

Viel Spaß beim Lesen.

Christian/Rene: Kommen wir direkt auf den Punkt: KI wird mittlerweile häufig als Silver Bullet verstanden, als die Lösung für alles, dabei ist sie oft schwer zu vermitteln. Was muss ein CEO im Jahr 2020 deines Erachtens über KI wissen?

Verena: Er muss vor allem wissen, dass er Ängste und Zwänge, mit denen er in Bezug auf KI eventuell noch schwanger geht, so schnell wie möglich überwinden muss. Oft entstehen diese erst, weil man sich überhaupt nicht mit KI auseinandersetzt und sich nicht vorbereitet. Gleichzeitig wird die Welt und damit auch das Verhalten der Kunden immer komplexer. Darin steckt eine irre Chance, vor allem auch für kundennahe Bereiche, von der Prognosekraft einer KI profitieren zu können. Die globalen Player, die KI bereits für sich nutzen, kann man nach wie vor an zwei Händen abzählen – auch wenn die schon mehr wert sind als der DAX in Summe.

Christian/Rene: Wie nimmst du deinem Gegenüber seine Ängste und wie vermittelst du ihm, wie KI funktioniert?

Verena: Ich thematisiere durchaus sehr offen, dass immer noch viele Fragen unbeantwortet sind und es dennoch einen ethischen Rahmen braucht. Das jüngste Regelwerk zu den Anforderungen an eine KI hat die EU-Kommission im April 2019 veröffentlicht. Und ich gebe mein Bestes, den Kunden zu verdeutlichen, dass es wichtig ist – auch ob der offenen Fragen – in kleinen Schritten voranzugehen.
Alles muss transparent und nachvollziehbar sein, von Anfang bis Ende. Direkt mit Deep Learning einzusteigen ist für die wenigsten Unternehmen eine gute Idee. Dazu gehört auch, dass Verantwortlichkeiten festgelegt werden müssen und entschieden werden muss, wann genau der Mensch in den maschinellen Bearbeitungsprozess eingreift.

Christian/Rene: Wie gut verstehen deine Geschäftspartner das Thema KI bereits? Sind die meisten blutige Anfänger oder eigentlich Profis, die nur noch nicht den konkreten Move hinbekommen haben?


Verena: Meistens sind es wirklich die Profis, die mich um Hilfe bitten, weil sie in ihrem Unternehmen selbst noch extrem viel Überzeugungsarbeit leisten müssen. Denen helfe ich vor allem, die Erwartungen der verschiedenen Stakeholder-Gruppen im Unternehmen zu managen.


Christian/Rene: Wie von so manch anderer globalen Innovation auch, „wünschen“ sich viele von einer KI, dass sie auf einen Schlag alle bestehenden Probleme löst. Dabei wäre es intelligenter, mit einer konkreten Frage zu beginnen, auf die eine Antwort benötigt wird. Welche Standardeinsatzbereiche siehst du derzeit für KI und was kommt wahrscheinlich in drei bis fünf Jahren?

Verena: Naheliegend – und damit Standard – ist alles, was mit Empfehlungen im Bereich E-Commerce zu tun hat. Das wird deutlich durch Chatbots, die Kontakte schneller oder preiswerter abwickeln als das vorher zum Beispiel telefonisch möglich gewesen wäre, aber auch durch digitale Assistenten, die mit künstlicher Intelligenz Inhalte präziser ausspielen und so für jeden Kunden das Richtige finden. Bislang funktionieren viele digitale Assistenten über Spracherkennung (Voice) – die heißen dann Alexa, Siri oder auch Cortana. Durch solche Lösungen entstehen ganze Ökosysteme, deshalb ist da auch die meiste Musik drin, weil es skaliert, obwohl der technische Anspruch gar nicht so hoch ist.
Ein Einsatzbereich, der sich mittelfristig etablieren wird, ist Übersetzung, insbesondere im Bereich Werbung und allgemeine Content Creation. Und diese Vorgänge bergen wiederum das Potenzial, die Spracherkennung zu verbessern. Das bedingt sich also und wird damit zu einem Schwungrad.


Christian/Rene: Angenommen, ich möchte über „Voice“ auf mich aufmerksam machen oder meinen Kundenservice über Voice steuern. Wie gehe ich vor?


Verena: Ich würde dazu raten, nicht direkt selbst ein ganzes Spracherkennungssystem konzipieren zu wollen, sondern sich zu überlegen, wie man Bots entwickeln kann, die in der B2B-Kommunikation mit bereits existierenden Bots interagieren können. Viele unterschätzen die Arbeit, die einem Voice-Konzept vorausgeht – die Erhebung von Daten ist ja nur der erste Schritt. Es dauert eine ganze Weile, bis man Daten auch ertragreich nutzen kann. Überhaupt sollte man, bevor man sich an das Thema KI herantraut, ein sehr gutes Verständnis von datengetriebenen Unternehmensprozessen im Allgemeinen haben. Hier wird dann auch klar, warum ich sowohl Geburtshelferin als auch Sterbebegleiterin sein kann. Wer sich überschätzt, das Thema unterschätzt wird sich entsprechend verzetteln und es ggf. nicht überleben, wer es smart angeht, wird neu geboren.


Christian/Rene: Inwiefern ist es einfacher, erst einmal nur mit einer leichten Geburt – einem einfachen Chatbot zu starten? Wo siehst du diesbezüglich das Potenzial?


Verena: Für mich ist ein Chatbot vor allem ein gutes Lern-Tool. Das Problem ist nur: Viele erwarten mehr. Das habe ich eben erst bei einer großen Versicherung beobachtet. Die haben einen Chatbot gebaut, mit direktem Kundenkontakt, und in der Erprobungsphase gemerkt, dass das nicht klappt –und alle sind frustriert. So ein Schritt ist aber für das Antrainieren einer bestimmten Logik sehr wertvoll: Wie spitz darf der Anwendungsfall sein und wie viel Input ist nötig, um den Bot auch wirklich auf Kunden loslassen zu können? Gerade weil Kunden ihre Fragen so unterschiedlich und teilweise verquer formulieren, ist es schwer, die alle in den gleichen Trichter zu leiten.


Christian/Rene: Wie lange dauert es ungefähr, bis man einen ersten MVP auf der Straße hat? Auf was für Projektlaufzeiten muss man sich einlassen?


Verena: Das hängt von dem Anspruch ab, den man an die KI stellt. Wenn man zum Beispiel eine Botplattform baut, ist es ratsam, sich an den einzelnen Modulen zu orientieren und für jedes Modul eine Laufzeit von drei bis sechs Monaten einzuplanen. So kann man immer wieder testen, ob die Plattform funktioniert, und einzelne Module aussortieren, ohne an Fahrt zu verlieren.


Christian/Rene: Du bist unter anderem auch im Silikon Valley aktiv. Wie wird dort mit dem Thema KI umgegangen, beziehungsweise grundsätzlich in den Staaten? Gibt es große Unterschiede zu Europa und insbesondere zu Deutschland?


Verena: Ich sehe vor allem deshalb einen großen Unterschied zu Europa und zu Deutschland, weil das ganz Thema KI vor allem im Bereich B2C durch amerikanische Großkonzerne vorangetrieben wird, wie Google, Amazon und Apple – die Klassiker. Und auch die amerikanischen Unis investieren viel in ihre Forschungshubs. Deutschland muss da einfach noch mutiger werden und in größeren Maßstäben denken. Wir müssen uns an neue Kooperationen und Netzwerke heranwagen.


Christian/Rene: Du hast eben erwähnt, dass du Unternehmen empfiehlst, erst einmal zu überlegen, wie sie die bereits bestehenden Systeme und Bots für sich nutzen können. Ich würde diesen Gedanken gerne einmal auf ein Handelskonzept übertragen und Amazon in den Fokus rücken: Früher bestand der Wert des Unternehmens in seiner Kundendatenbank. Nie im Leben hätte ein Unternehmen die mit einem Wettbewerber geteilt. Heute geht jeder, dem 30 Prozent Umsatz fehlen, mit seiner Datenbank zum Amazon Marketplace und stellt Amazon die Adressen zur Verfügung, um im Umkehrschluss mehr Leute erreichen zu können – wohlwissend, dass Amazon auch gerne einmal Kunden abgreift. Könnte das mit KI-Systemen irgendwann genauso funktionieren?


Verena: Ja, auf jeden Fall. Die Folgefrage müsste dann aber lauten: Ist das eine schlaue Strategie?
Immerhin vergrößert man damit auch seine eigene Abhängigkeit von der Plattform. Und schließlich gibt es Alternativkonzepte. Ich glaube, es war Regensburg – dort haben sich jetzt die führenden Hoteliers der Stadt zusammengeschlossen und gemeinschaftlich von booking.com losgesagt. Und da mehrere zusammenarbeiten, haben sie nun eben die Möglichkeit, etwas Eigenes zu schaffen. Natürlich ist die Bequemlichkeit der Kunden groß. Die haben nicht unbedingt Lust, ständig zwischen Anwendungen und Plattformen hin- und herzuspringen. Deshalb müssen wir uns auch fragen, wie wir den Austausch von Kundendaten in Zukunft fairer gestalten und wie wir die Kunden zum Aufwachen bewegen können, um das anders zu verhandeln. Dafür müssen wir uns aber zuerst die Mechanismen der Großen anschauen, um sie am Ende vielleicht sogar mit ihren eigenen Waffen schlagen zu können.

Wie in fast allen großen Innovations-Themen gilt also auch hier – erst eine passende Strategie entwickeln, statt einfach einer „neuen“ Sau folgen, die durchs Dorf getrieben wird. Es könnte ja der direkte Weg zum Schlachter… wo wir wieder bei der Sterbebegleitung wären.

 

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