Moritz Mann, CEO und Gründer Stadtsalat & Protofy

Mit seinem Unternehmen Protofy entwickelt Moritz digitale Geschäftsmodelle und Produkte für Kunden wie Siemens, Porta und Edited. Das notwendige Wissen dazu hat er selbst aus der Gründerperspektive beim Aufbau des Lieferdienstes Stadtsalat sowie in über 250 Digitalprojekten mit Protofy gesammelt. Insbesondere die systematische Integration von echtem Kundenfeedback in die Produktentwicklung waren dabei aus seiner Sicht entscheidend, um den Durchbruch zu schaffen. In diesem Interview geht es vor diesem Hintergrund unter anderem um die folgenden Fragen: 

Viel Spaß beim lesen!

Christian/Rene: „Kundenzentriertes Arbeiten“ ist derzeit ein Buzzword – man liest es überall, und könnte meinen, das können alle und machen alle. Welches Kompetenzlevel haben Unternehmen in der deutschen Wirtschaft diesbezüglich wirklich und wie beurteilst du kundenzentriertes Arbeiten für dich selbst?

Moritz: Ich glaube, es ist wichtig, bei solchen Fragen nicht alle über einen Kamm zu scheren. Es stimmt, „kundenzentriertes Arbeiten“ ist ein Buzzword, das sich viele auf die Fahnen schreiben. Gleichzeitig bestehen in vielen Unternehmen nach wie vor Hürden, auch wirklich nach dem Test-and-Learn-Prinzip zu arbeiten. Das ist eine stark kulturelle Frage, wobei ich aber einwerfen würde, dass Deutschland, historisch, wie kein zweites Land für Operational Excellence steht. Man muss sich nur einmal vor Augen führen, welche genialen Ideen die deutsche Industrie bereits hervorgebracht hat! Wir sind gut darin, alles Mögliche zu optimieren – das zeichnet den deutschen Standort aus.

Christian/Rene: Und was zeichnet ihn ggf. nicht aus?

Moritz: Wir mögen gut darin sein, Dinge zu verbessern, aber wir lassen uns immer wieder von neuen, schnelleren und kundenzentrierten Modellen überholen. Bisher schafft es nur ein kleiner Teil der deutschen Unternehmen, durch neue Vorgehensweisen innovativer zu werden und mit neuen Lösungen intensivere Kundenbindung zu schaffen.

Christian/Rene: Woran liegt das? 

Moritz: Eine Beobachtung, die ich häufig mache, ist, dass sich Unternehmen mit ihren Bedenken aufhalten: Was können wir alles noch nicht lösen? Was könnte alles schiefgehen?

Christian/Rene: Es gibt tausend gute Gründe, etwas zu machen, man sucht aber häufig nach dem einen Grund es nicht zu machen.

Moritz: Genau, schön ausgedrückt. Und das ist letztlich der Punkt, mit dem viele Zeit verschenken: „Das und das will ich noch lösen, bevor ich anfange“ – und dann kommen sie auf das Nächste und das Nächste und das Nächste. Viele sind aber auch nicht lernwillig und sie halten an alten  Annahmen fest oder sie ignorieren einfach, dass die Datenlage nicht selten eine ganz andere Geschichte erzählt als man selbst hofft.  

Christian/Rene: Was hilft dagegen? 

Moritz: Man muss bereit sein, seine Pläne anzupassen und für andere Perspektiven offen sein. Wenn diese Bereitschaft fehlt, dann wird es  schwer. 

Christian/Rene: Den Rest erledigt dann der Markt. 

Moritz: Richtig 🙂

Christian/Rene: Beobachtest du, dass junge Unternehmen diesbezüglich schon ganz anders starten und dass es deshalb eventuell insbesondere Großunternehmen schwerer fällt, kundenzentriert zu arbeiten?

Moritz: Für junge Unternehmen ist es einfacher, kundenzentriert zu starten oder sich zu transformieren, weil weniger Überzeugungen und festgefahrene Strukturen vorhanden sind. Wer wirklich kundenzentriert arbeiten will, darf nicht bloß auf agile Methoden schwören. Die zentrale Frage ist: Auf welcher Grundlage und durch welche Abteilungen und Mitarbeiter:innen werden wirklich Entscheidungen getroffen? Man muss den eigenen Innovationsprozess einmal komplett umdrehen und sich als einzige Entscheidungsgrundlage Daten zur Hand nehmen, die Einblicke in die Leben der Zielgruppe geben. Und das machen tatsächlich nur ganz, ganz wenige Unternehmen in Deutschland. Darunter sind sowohl große als auch kleine.

Christian/Rene: Häufig argumentieren Unternehmen, dass sie ja bereits kundenzentriert wären, weil sie sonst schlichtweg keinen Umsatz machen würden. Welche drei Kriterien könntest du einem Mittelständler jetzt nennen, anhand derer er seine Kundenzentriertheit wirklich einmal einem Härtetest unterziehen kann?

Moritz: Im Grunde sind es genau die beiden Dinge, die ich eben schon erwähnt habe: Die Datengrundlage, die für die Entscheidungsfindung genutzt wird, muss etwas taugen, und wer die Entscheidungen trifft, muss auf dieser Grundlage den Kundenvorteil und die betriebswirtschaftlichen Chancen und Risiken erkennen.  

Christian/Rene: Sollte das nicht “normal” sein?

Moritz: Sollte es, ist es aber nicht. Vor allem bei Familienunternehmen heißt es oft „Bei uns spricht die Inhaberin immer mit, und sie hat auch viel Digitalverständnis, viel Kompetenz“. Das will ich niemandem absprechen – nur merkt wir da schon, woran es letztlich krankt. In vielen Unternehmen ist genau das die Sollbruchstelle – Entscheidungen werden im Elfenbeinturm – ohne die Kund:in – getroffen. Da muss ein Kulturwandel stattfinden. Und sollte noch keine geeignete Datengrundlage vorhanden sein, starten wir mit ihrer Erhebung, sodass wir ein validiertes Projekt mit fundierter Basis angehen können. Dann ist es möglich, dass Entscheidungen kundenzentriert, und nicht meinungsbasiert getroffen werden.

Christian/Rene:  Wie steht es aus Deiner Sicht um die Data Literacy in Deutschland? 

Moritz: Manche unserer Kunden verzweifeln am Thema Daten und manche nicht. Ich persönlich habe häufig den Eindruck, dass es im deutschen Mittelstand gar nicht so schlimm ist, wie man manchmal liest.

Christian/Rene: Das wäre doch schon einmal eine positive Nachricht!

Moritz: Das würde ich als ganz optimistischen Ansatz mitnehmen. Es bestehen durchaus auch Herausforderungen, vor allem in Bezug auf die Datenerhebung und -speicherung. In Deutschland beschäftigen wir uns ja viel mit Datenschutz, was ich prinzipiell sehr, sehr gut finde. Häufig kann dieses Maß an Datenschutz aber auch bremsen – zum Beispiel im Hinblick auf Amazon AWS Cloud und Co. Dann ist es ein rotes Tuch, und der eigene Server im Keller des Unternehmens wird zum Speicherort der Wahl. Wir sind also in einem Feld tätig, in dem wir noch einen Weg zu gehen haben, aber ich glaube eben ganz optimistisch daran, dass es rund um den deutschen Standort nicht so düster aussieht, wie man manchmal meint.

Christian/Rene: Wie lange dauert aus deiner Sicht so ein Kulturwandel, um “anders” zu arbeiten?  Wann erreicht man das Tal der Tränen, wann verlässt man es wieder und wann würdest du sagen, hat man wirklich etwas erreicht?

Moritz: Ich könnte mir vorstellen, dass das größenabhängig ist. Häufig fußen die Auf-/Ablauforganisationen größerer Unternehmen auf ausgeprägten Hierarchien. Und auch die Bereitschaft des Führungsteams, sich auf den Wandel einzulassen, bestimmt über den zeitlichen Rahmen. Wir merken es derzeit an uns selbst: Wir sind ein Unternehmen mit 35 Personen, und haben begriffen, dass das von uns angepeilte Wachstum nur dann stattfinden kann, wenn wir neue Strukturen finden und etablieren. Da wurde an uns, die Führungsriege, dieselbe Frage herangetragen: Wo seid ihr denn bereit, von der bisherigen Struktur abzuweichen? Wenn man eine Transformation beginnt, ohne die bisherige Unternehmensführung einzubeziehen, wird der Wandeldaran zugrunde gehen, dass die Strukturen eben doch noch anders gelenkt werden.

 

Christian/Rene: Zum Abschluss: Wer das bislang spannend fand, welches Buch würdest Du empfehlen?

Moritz: Ein ganz tolles Buch ist „Reinventing Organizations“ des Wirtschaftsphilosophen Frederic Laloux. Das gibt es in zwei verschiedenen Ausgaben: eine illustrierte für Einsteiger und eine ausführliche Variante mit 360 Seiten. Die Einsteiger-Variante hilft einem Unternehmenslenker auf jeden Fall, einmal in sich hinein zu spüren und herauszufinden, ob man sich auf einen radikalen Wandel einlassen möchte oder nicht. Es ist vor allem deshalb ein tolles Beispiel, weil es anhand mehrerer Fälle darstellt, welche neue Möglichkeiten für die Zusammenarbeit von Teams entstehen. Es geht darum, durch Selbstorganisation im Unternehmen mehr Wirkung und Sinn zu finden und Hierarchien aufzubrechen. Beides ist Voraussetzung für das Schaffen von wirklich agilen Teams und Innovationsprozessen.

Christian/Rene: Vielen Dank für das coole Interview!

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